Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik Deutschland

Präsidentinnen und Präsidenten blicken in die Zukunft der Verwaltungsgerichtsbarkeit

LÜNEBURG. Auf ihrer 49. Jahrestagung haben sich die Präsidentin des Bundesverwaltungsgerichts und die Präsidentinnen und Präsidenten der Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe der Länder im geschichtsträchtigen Ambiente des Rathauses der Hansestadt Lüneburg zukunftsorientierten Themen zugewandt: So haben sie sich dafür ausgesprochen, die Eigenverantwortlichkeit der Gerichte gegenüber der ministeriellen Justizverwaltung künftig zu stärken. Ferner ging es um die Frage, wie die Möglichkeiten der elektronischen Kommunikation und eine elektronische Aktenführung die Arbeitswelt in der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Zukunft verändern werden. Außerdem sind bei den Arbeitssitzungen am 8. und 9. Oktober die Personalausstattung und die Altersstruktur der Verwaltungsgerichtsbarkeit thematisiert worden. Ferner haben sich die Gerichtspräsidentinnen und Gerichtspräsidenten mit Rechtsweg- und Zuständigkeitsfragen befasst und dabei die bisherigen Aktivitäten des Gesetzgebers kritisch bewertet sowie mögliche Verbesserungen in den Blick genommen.

Die Gerichtspräsidentinnen und Gerichtspräsidenten treten für eine Stärkung der justiziellen Selbstverwaltung ein, um auch in Zeiten "knapper Kassen" die Leistungsfähigkeit der Justiz zu erhalten und zu verbessern. Sie halten eine größere Eigenständigkeit der Gerichte in Personal-, Haushalts- und Organisationsangelegenheiten für angebracht. Die sich unmittelbar in den Gerichten auswirkenden Entscheidungen können dort in größerem Maße als bisher auch eigenverantwortlich getroffen werden, ohne dass es ministerieller Vorgaben bedarf. Eine stärkere Eigenverantwortlichkeit ist aber kein Selbstzweck. Effizientere Entscheidungsstrukturen sollen der Leistungssteigerung der Gerichte und damit letztlich dem effektiven Rechtsschutz im Interesse des rechtsuchenden Bürgers dienen. Eine Übernahme der in anderen europäischen Ländern entwickelten Selbstverwaltungsmodelle - wie etwa in Italien, Spanien oder Portugal - wird von den Präsidentinnen und Präsidenten aber abgelehnt. Eine unbeschränkte Autonomie der Gerichte kommt in Deutschland schon deshalb nicht in Betracht, weil alle Reformmodelle dem verfassungsrechtlichen Erfordernis einer hinreichenden demokratischen Legitimation genügen müssen.

Für einen Blick in die nahe Zukunft der elektronischen Datenverarbeitung in den Verwaltungsgerichten mussten die Präsidentinnen und Präsidenten keine Kristallkugel bemühen: Im Arbeitsalltag der Gerichte ist die elektronische Datenverarbeitung schon jetzt nicht mehr wegzudenken. Nach wie vor werden aber Schriftsätze beim Gericht durchweg noch in Papierform eingereicht; auch die Akten bei den Behörden und den Gerichten werden noch in Papierform geführt. Insofern stehen der Verwaltungsgerichtsbarkeit in naher Zukunft allerdings große Umwälzungen bevor. Die rechtlichen und technischen Voraussetzungen der elektronischen Kommunikation sind bereits gegeben und nicht zuletzt aufgrund des Einflusses des europäischen Gemeinschaftsrechts (z.B. der Dienstleistungsrichtlinie) ist davon auszugehen, dass die Behörden zunehmend auf die elektronische Aktenführung umstellen werden. Einzelne, auch größere Behörden, wie etwa das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, haben bereits auf die elektronische Akte umgestellt, so dass es die klassische Akte in Papierform dort gar nicht mehr gibt. Mit der zunehmenden Umstellung auf die elektronische Akte sind zahlreiche Probleme verbunden: Noch nicht geklärt ist, wie bei elektronischen Akten die Gleichwertigkeit zur Papierakte, die die Verwaltungsabläufe nachvollziehbar macht, gewährleistet werden kann. Auch vielfältige technische Einzelfragen müssen noch beantwortet werden. Die Präsidentinnen und Präsidenten haben vereinbart, diese Thematik weiterzuverfolgen.

Mit Nachdruck haben sich die Präsidentinnen und Präsidenten erneut für eine Bereinigung der Rechtswege, also eine verbesserte Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche der Gerichtsbarkeiten, ausgesprochen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Verwaltungs- und Zivilgerichtsbarkeit. Nach wie vor sind die Zivilgerichte etwa für Amtshaftungsklagen zuständig, obwohl gerade die Verwaltungsgerichte die Rechtmäßigkeit des behördlichen Handelns zu beurteilen haben. Eine einheitliche Rechtswegzuständigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit würde den Rechtsschutz vereinfachen. Diskutiert haben die Präsidentinnen und Präsidenten auch, ob eine Abgrenzung der Zuständigkeiten der Verwaltungs-, Sozial- und Finanzgerichte untereinander nicht besser hinter einer Zusammenlegung der Fachgerichtsbarkeiten zurücktreten sollte. Was die instanziellen Zuständigkeiten innerhalb der Verwaltungsgerichtsbarkeit betrifft, blicken die Präsidentinnen und Präsidenten mit Sorge auf die bisherige Tendenz des Gesetzgebers, Zuständigkeiten auf die Obergerichte und das Bundesverwaltungsgericht "hochzuzonen". Bei einer Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe können die besonderen Kenntnisse der Verwaltungsgerichte über die örtlichen und regionalen Strukturen keinen Eingang in die Entscheidungen mehr finden. In noch stärkerem Maße trifft dies für erstinstanzliche Zuständigkeiten des Bundesverwaltungsgerichts anstelle der Zuständigkeit der Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe der Länder zu. Auch wirft eine solche "Hochzonung" verfassungsrechtliche Probleme auf, weil das Grundgesetz als Leitbild bei der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben eine Länderzuständigkeit vorsieht und den Bundesgerichten in diesem Gefüge die Aufgabe als Revisionsgericht zukommt, das grundsätzlich nicht über Tatsachenfragen zu befinden hat.

Bei seiner Begrüßungsrede im Rahmen des Empfangs der Landesregierung hat der Gastgeber der Tagung, Präsident des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts Dr. Herwig van Nieuwland, den in der Verwaltungsgerichtsbarkeit eingetretenen Strukturwandel der letzten Jahre skizziert. Er hat ausgeführt, dass an die Stelle von Rechtsgebieten mit hohen Fallzahlen und vielfach ähnlich gelagerter rechtlicher Problematik (z.B. Sozialhilferecht) zwar weniger, dafür allerdings arbeitsintensivere Verfahren getreten sind, in denen - wie beispielsweise im Umwelt- und Planungsrecht - grundlegende Weichenstellungen zu treffen und schwierige Rechtsfragen zu klären sind. "Zwar ist rein statistisch ein gewisser Rückgang bei den Eingangszahlen zu verzeichnen, andererseits erleben wir bei den Streitsachen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine deutliche Akzentverschiebung weg von der Quantität hin zu mehr Qualität; mit anderen Worten: weniger Masse, mehr Klasse", so Dr. van Nieuwland. Den infolge veränderter Rahmenbedingungen eingetreten Strukturwandel hat auch der Niedersächsische Justizminister Bernd Busemann in seiner Willkommensrede aufgegriffen: "Ich sehe wie Sie eine qualitative Verschiebung der Verfahren in Richtung hochkomplexer Rechtsstreitigkeiten. Das betrifft insbesondere Materien mit einer besonderen wirtschaftlichen Bedeutung", führte Busemann gegenüber den Präsidentinnen und Präsidenten aus. Minister Busemann zeigte sich überzeugt, dass die Verwaltungsgerichtsbarkeit gut gerüstet sei, um die mit dem Strukturwandel verbundenen Herausforderungen zu bewältigen. Insoweit verwies er beispielhaft auf Qualitätssicherungsmaßnahmen, die gerichtsnahe Mediation und gesetzgeberische Aktivitäten zur Verfahrensbeschleunigung. Eine Rechtswegverkürzung bis auf eine einzige Instanz sieht Minister Busemann zwar als probates Mittel zur Verfahrensbeschleunigung an, steht dem zugleich aber nicht unkritisch gegenüber: "Die Rechtswegverkürzung darf aus meiner Sicht nicht zum Regelfall werden", betonte er.

Die 49. Jahrestagung findet am 10. Oktober 2009 um 11.00 Uhr in der St. Johanniskirche in Lüneburg bei einem Konzert des Kirchenmusikdirektors Joachim Vogelsänger mit Stücken von Johann Sebastian Bach ihren - wortwörtlichen - "Ausklang".


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