Auszug aus Ramsauer, 150 Jahre Verwaltungsgerichtsbarkeit – Jubiläum einer Unvollendeten, BDVR-Rundschreiben 2013, Seite 124 ff.
Mit dem Ende des ersten Reiches im Jahr 1806 lösten sich auch das Reichskammergericht und der Reichshofrat auf. Beide Reichseinrichtungen hatten bis dahin die Möglichkeit eröffnet, in beschränktem Umfang Rechtsschutz gegen die Landesfürsten zu bieten. Dieser Rechtsschutz war nicht auf das Privatrecht und Fiskus-Klagen beschränkt, sondern konnte auch der Verteidigung "wohlerworbener Rechte" (jura quaesita), möglicherweise darüber hinaus sogar der persönlichen Freiheit, wie einige Rechtshistoriker schreiben, gegenüber dem Landesherrn dienen. Viele Landesherren hatten vom Kaiser allerdings das Privilegium de non appellando erhalten, das sie gegen Klagen vor den reichsunmittelbaren Institutionen schützen sollte. Ein solcher Schutz setzte aber jedenfalls voraus, dass sie den Rechtsschutz durch Institutionen ihres eigenen Landes eröffneten und deren Entscheidungen anerkannten.
Die Auflösung des Reichskammergerichts wird von den Untertanen nicht als sehr schmerzlich empfunden worden sein. Selbst diejenigen, deren Anliegen dort entschieden werden konnten, brauchten sehr viel Geduld und vermutlich auch Geld. Man konnte auch nicht sicher sein, dass die Erkenntnisse des Reichskammergerichts dann von den Landesfürsten beachtet würden. Von Effizienz oder Effektivität des Rechtsschutzes vor den Reichseinrichtungen kann deshalb nicht die Rede sein. Ob es gerechtfertigt war, das Deutsche Reich vor seinem Ende mit Walter Jellinek als Justizstaat zu bezeichnen, mag auf sich beruhen. Von einem echten Rechtsschutz in Verwaltungssachen wird man kaum sprechen können.
In den Ländern war der Rechtschutz der Untertanen sehr unterschiedlich, aber einheitlich unbefriedigend ausgeprägt. Die erstaunliche Vielfalt, die herrschte, kann und soll hier nicht nachgezeichnet werden, zumal hierüber unter den Rechtshistorikern nicht immer Einigkeit besteht. Und doch ist es wichtig, einen Blick auf die deutschen Länder zu werfen, weil vermutlich hier ein Grund für die Auseinandersetzungen um den Rechtsschutz im sog. Vormärz gelegen haben dürfte. Verwaltungsrechtliche Streitigkeiten wurden nämlich teilweise als Justizsachen angesehen, die vor den "ordentlichen" Gerichten verhandelt werden konnten, teilweise waren sie diesen aber entzogen und wurden dann von besonderen bei der Verwaltung selbst geschaffenen Kammern, Ausschüssen, Gremien und Kollegien behandelt.
Vermutlich aus diesem Dualismus folgte dann in der Diskussion im Vormärz die Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der justizstaatlichen Auffassung auf der einen und den Vertretern der Administrativjustiz auf der anderen Seite. Während die einen eine umfassende Zuständigkeit der "ordentlichen" Gerichte für Verwaltungssachen forderten, wurde von den anderen der Ausbau einer möglichst unabhängigen Administrativjustiz befürwortet. Üblicherweise werden diese gegensätzlichen Auffassungen mit den Namen Robert v. Mohl auf der einen und Rudolf v. Gneist auf der anderen Seite verbunden. Auf dem zuletzt genannten Weg war man in einigen Ländern, wie z.B. in Württemberg, recht weit vorangekommen. In der Paulskirchen-Verfassung konnte sich dann die justizstaatliche Richtung durchsetzen, weshalb in Art. 182 Abs. 1 der Paulskirchenverfassung der für heutige Ohren merkwürdige Satz stand: "Die Verwaltungsrechtspflege hört auf; über alle Rechtsverletzungen entscheiden die Gerichte." Die Verwaltungssachen sollten vor die "ordentlichen" Gerichte.
Das ist Geschichte. Die Revolution scheiterte bekanntlich, die Paulskirchenverfassung, dieses im Übrigen aus heutiger Sicht fundamentale Werk, konnte nicht in Kraft treten. So war es zwar am Ende nicht die Paulskirchenverfassung, wohl aber die Revolution von 1848, die der Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit wesentliche Impulse gegeben hat. Trotz der einsetzenden politischen Reaktion wurde der Druck der Liberalen auf die Landesfürsten, eine unabhängigere Justiz in Verwaltungssachen zu schaffen, immer größer, bis es dann im Jahr 1863 tatsächlich in Baden zur Gründung des ersten Verwaltungsgerichtshofs in Deutschland und damit – nach Jubiläums-Lesart – zur Geburtsstunde der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit kam.
Nichts ist stärker als eine Idee, deren Zeit gekommen ist, möchte man sagen. In den folgenden Jahren folgten immer mehr Länder dem Vorbild aus Baden und richteten organisatorisch unabhängige Verwaltungsgerichte ein. Es hat wenig Sinn, die Reihenfolge hier aufzuzeigen. Daraus lässt sich heute wenig herleiten, zumal der Umfang des gewährten Rechtsschutzes in den Ländern sehr unter schiedlich war. Erwähnt werden soll aber, dass es beim Beginn des ersten Weltkriegs in den Hansestädten und in Mecklenburg noch keine selbständigen Verwaltungsgerichte gab. Man kann nicht sagen, dass es im zweiten Reich eine moderne Verwaltungsgerichtsbarkeit gab, aber ihre Grundlegung erfolgte in dieser Zeit, zumal parallel dazu auch die Verwaltungsrechtslehre einen wesentlichen Aufschwung nahm.
Auch wenn die neu geschaffenen Verwaltungsgerichte nicht nur wegen ihrer begrenzten Kompetenzen weit davon entfernt waren, einen flächendeckenden Rechtsschutz gegen Maßnahmen der öffentlichen Gewalt sicher zustellen, so waren sie doch politisch ein wichtiger Baustein des Rechtsstaats. Die Parlamente hatten ja seinerzeit im wesentlichen nur die Möglichkeit, Gesetze zu erlassen; es war deshalb für die Liberalen von entscheidender Bedeutung, dass die Einhaltung dieser Gesetze durch die monarchisch geprägte Exekutive von jedenfalls organisatorisch unabhängigen Verwaltungsgerichten kontrolliert werden durfte. Man darf das Maß an Unabhängigkeit, das seinerzeit herrschte, aber nicht überschätzen. Unabsetzbarkeit, Unversetzbarkeit und Schutz der Richter vor disziplinarischen Maßnahmen waren nicht überall garantiert. Und beim Nachdenken über die innere Unabhängigkeit kommt einem schnell der berühmt berüchtigte Ausspruch eines preußischen Ministers in den Sinn, die Unabhängigkeit der Richter sei ihm gleichgültig, solange er über die Beförderung entscheiden könne.
In der Weimarer Republik sollte die Verwaltungsgerichtsbarkeit weiter gestärkt werden. So bestimmte Art. 107 der Weimarer Reichsverfassung: "Im Reiche und in den Ländern müssen nach Maßgabe der Gesetze Verwaltungsgerichte zum Schutze der Einzelnen gegen Anordnungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden bestehen." Damit wurde vor allem die Forderung nach einem Reichsverwaltungsgericht, die schon in der Vorkriegszeit eine Rolle gespielt hatte, in den Verfassungsrang erhoben. Maßnahmen des Reiches unterlagen bis dahin der Kontrolle der Verwaltungsgerichte der Länder nämlich nicht.
Der "Kampf um das Reichsverwaltungsgericht" über die gesamte Lebensdauer der Weimarer Republik hinweg zeigt beispielhaft, wie gering die Möglichkeiten einer politischen Gestaltung in Weimar waren. Wolfgang Kohl hat in seiner überaus lesenswerten, von Stolleis betreuten Dissertation über das Reichsverwaltungsgericht im einzelnen dargestellt, wie die durchaus ernsthaften Bemühungen um die Gründung des Gerichts im partikularen Streit um Macht und Einfluss am Ende scheiterten. Hauptakteure waren wohl Bayern und Preußen, die mit immer neuen Winkelzügen die Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes zu verhindern wussten. Und schließlich, als die Hindernisse überwunden schienen, war es – man mag es zunächst kaum glauben – der Widerstand des Reichsgerichts, das um den Verlust von Einfluss fürchtete. So blieb die Weimarer Republik bis zu ihrem Ende ohne ein Reichsverwaltungsgericht.
Im Windschatten des Streits um das Reichsververwaltungsgericht entwickelten sich aber auf Reichsebene eine Vielzahl spezieller Gerichte und Institutionen prächtig, die – teilweise schon in der Kaiserzeit entstanden – sich neben dem Reichsgericht mit einzelnen Gebieten der Verwaltungssachen zu beschäftigen hatten. Von diesen überaus unterschiedlichen und vielfältigen Einrichtungen seien wegen ihrer besonderen Bedeutung und Wirkung über die damalige Zeit hinaus der Reichsfinanzhof, das Reichsversicherungsamt und Reichsversorgungsgericht besonders hervorgehoben. Hier dürfte einer der Gründe für unseren heute immer noch zu beklagenden Rechtswegestaat liegen.
Es ist schon eine Art Treppenwitz der Weltgeschichte, dass das Reichsverwaltungsgericht, um das in der Weimarer Zeit so lange gerungen worden war, ausgerechnet in der Zeit des Nationalsozialismus dann tatsächlich gegründet wurde. Freilich hatte die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die anfänglich noch eine gewisse Unabhängigkeit zu demonstrieren suchte, nach kurzer Zeit ihre Bedeutung eingebüßt, nicht zuletzt deshalb, weil der Zugang zu den Gerichten für den einzelnen Bürger und damit der Rechtsschutz nicht mehr gegeben war. Schließlich trug jedoch ihre Bedeutungslosigkeit nicht unwesentlich dazu bei, die Verwaltungsgerichtsbarkeit davor zu bewahren, für die menschenverachtenden Ziele des Regimes missbraucht zu werden. Das Dritte Reich war für die Verwaltungsgerichte eine Art "Auszeit".
Die Verwaltungsgerichtsbarkeit konnte weitgehend unbelastet und mit der Rückendeckung des Art. 19 Abs. 4 GG in die neue Bundesrepublik und damit jedenfalls in den Westteil des Nachkriegsdeutschlands starten. Das waren sicherlich wichtige Gründe für den enormen Aufschwung, den die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Nachkriegszeit erlebte. Nicht verschwiegen werden darf in diesem Zusammenhang allerdings auch der Einfluss der Westalliierten, denen nach den Erfahrungen des dritten Reiches an einer effektiven Kontrolle der deutschen Exekutive besonders gelegen war. Ausgestattet mit einer eigenen Prozessordnung, die dem Rechtsschutzsuchenden in vielerlei Hinsicht nicht nur den Weg zu den Verwaltungsgerichten, sondern – vor allem durch das Prinzip der Amtsermittlung – die Rechtsdurchsetzung erleichterte, mit einer Richterschaft, die eine neue Kontrollkultur ausprägte, und mit Spruchkörpern, die auch kleinere Fälle nicht den Einzelrichtern zuweisen konnten, sondern im Gremium entscheiden mussten, boten sie einen Rechtsschutz, wie es ihn zuvor noch niemals gegeben hatte. Freilich gelang es nicht, eine einheitliche Verwaltungsgerichtsbarkeit zu schaffen; neben der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit gab es die Sozial- und die Finanzgerichte als besondere Verwaltungsgerichte. Darüber hinaus musste die Bundesrepublik mit einer Vielzahl von Spezialrechtswegen und Spezialgerichten leben, die ihre Existenz der wenig linearen historischen Entwicklung verdanken und die unbehelligt blieben. Leider hat die Gesetzgebung in den letzten Jahrzehnten nicht viel dazu beigetragen, die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit wenigstens durch eine Bereinigung der Rechtswege weiter voran zu treiben. Man wird die Frage stellen müssen, weshalb die in Art 95 Abs. 1 GG aufgeführten Verwaltungsgerichtsbarkeiten auf Dauer nebeneinander erhalten bleiben. Das Vorhaben der Rechtswegebereinigung steht derzeit still. Aber das wird nicht immer so bleiben.
Es prägte sich bei den Verwaltungsgerichten ein Arbeitsstil heraus, der den "ordentlichen" Gerichten eher fremd war. Es wurde viel untersucht, angehört und begründet, der Aufwand war im Vergleich zu den "ordentlichen" Gerichten deutlich größer. Die Rechtsnormen, die von den Verwaltungsgerichten anzuwenden waren, mussten zu einem wesentlichen Teil neu erlassen werden und erforderten es nicht selten, neue Wege zu gehen. Der Aufwand, den die Verwaltungsgerichte trieben, war (und ist) manchen ein Dorn im Auge. Und doch lässt es sich nicht leugnen, dass die Verwaltungsgerichte mit ihrer Arbeit enorm zur Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in Deutschland beigetragen haben und beitragen. Der Kontrollaufwand der Verwaltungsgerichte erfordert Personal und Zeit. Dies ist der Preis der Freiheit, den eine Gesellschaft zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit, der Gleichbehandlung vor dem Gesetz und der Grund- und Menschenrechte zahlen muss. Hier hat die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht selten wertvolle Schützenhilfe durch die Verfassungsgerichte, insbesondere durch das Bundesverfassungsgericht erhalten.
In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts geriet die Verwaltungsgerichtsbarkeit in eine erste schwere Belastungsprobe, als sie mit Massenphänomenen, insbesondere mit dem plötzlich extrem ansteigenden Aufkommen an Asylanträgen, fertig werden musste. Vor allem das Prinzip der Amtsermittlung erwies sich hier als Hürde. Die Gerichte hatten es schwer, die Verfolgungsgefahr von Flüchtlingen aus aller Welt von Amts wegen zu prüfen und die Verhältnisse in den Heimatländern zu beurteilen. Die Folge war zunächst, dass die Gerichte die Berge von Asylverfahren nicht in angemessener Zeit bewältigen konnten mit der weiteren Konsequenz, dass gerade dieser Umstand neue Asylbewerber nach sich zog, die dar auf setzten, sich jedenfalls bis zum Ende ihres Asylverfahrens in Deutschland erlaubt aufhalten zu können.
Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Es kam zu radikalen Veränderungen des Verfahrens- und Prozessrechts, zunächst für die Asylverfahren, dann aber auch für die herkömmlichen Verfahren durch das Rechtspflege-Entlastungsgesetz 1993 und durch das 6. VwGO-Änderungsgesetz im Jahre 1996. So sollten etwa die Einführung des Einzelrichters in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die Beschränkung des Berufungs- und teilweise auch des Beschwerdeverfahrens sowie erhebliche Einschnitte im Verwaltungsverfahren für die gebotene Beschleunigung sorgen. Dieses Ziel wurde erreicht. Inzwischen sind die Probleme bei der Bewältigung von Massenverfahren beherrschbar, die Laufzeiten haben sich wieder deutlich verkürzt, Personal konnte wieder deutlich abgebaut werden. Aber die Beschränkungen im Prozessrecht sind geblieben. Nicht nur das: Sie entwickeln weiterhin eine gefährliche Eigendynamik, wie man an der Praxis der Übertragung von Sachen auf den Einzelrichter beobachten kann.
Der Beitritt der Länder der ehemaligen DDR stellte die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts vor erhebliche Herausforderungen. Verwaltungsgerichte gab es in der DDR nicht; ein Rechtsschutz in Verwaltungssachen, der diese Bezeichnung verdient hätte, war nicht gegeben. Er hätte sich mit dem Selbstverständnis des politischen Systems in der DDR auch kaum vertragen. Auch eine Verwaltungsrechtslehre gab es allenfalls in Ansätzen. Nach der Vereinigung musste die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den neuen Bundesländern organisatorisch wie personell neu aufgebaut werden. In einer Übergangsphase übernahmen die Kreisgerichte die Aufgaben des Rechtsschutzes in der ersten Instanz, aber schon nach kurzer Zeit konnten mit maßgeblicher Hilfe der jeweiligen Partnerländer im Wesen in den neuen Bundesländern selbständige Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte eingerichtet und besetzt werden. Auch wenn dies nicht überall ohne Probleme und Reibungsverluste ablief: Dank des Einsatzes vieler Verwaltungsrichter aus dem Westen kann der schnelle Aufbau der Verwaltungsgerichte in den neuen Bundesländern als erfolgreich und inzwischen auch als abgeschlossen bezeichnet werden. Die Idee von Mehrländer-Gerichten in der zweiten Instanz konnte nur in Berlin-Brandenburg verwirklicht werden; alle übrigen Länder verfügen über eigene – teilweise allerdings sehr kleine – Oberverwaltungsgerichte.